Amanda

Amandas Füße waren zu groß. Im Verhältnis zu ihrer Körpergröße, hatten ihre Füße ein größeres Maß eingenommen. Ihre Erscheinung wirkte unharmonisch. So wie Teenager aussehen, wenn ihre Körper sich auf den Weg zu einem erwachsenen Menschen machen und ihr Geist die Reise antritt weiser zu werden.

Teenager wirken unausgewogen. Man schaut sie an, nickt und weiß auf welchem Weg sie sich befinden. Bei Amandas Anblick hielt man inne, man dachte, dass irgendetwas an ihr nicht richtig, nicht angemessen wirkte. Man konnte nicht nicken, weil etwas an ihr unharmonisch wirke, obwohl sie kein Teenager mehr war. Nach einiger Zeit, vielleicht wenn man Amanda ein zweites Mal traf, blickte man auf ihre Füße und wusste, dass sie zu groß waren. Warum hat diese junge Frau so große Füße, fragte man sich. Es wirkte so, als ob jemand ihr Wachsen zu einer Frau verhindert hätte, dass sie zu etwas Großem hätte werden können. Ihre Füße hatten sich schon auf den Weg gemacht und dann bremste sie jemand. Vielleicht erschrak ihr Körper über etwas und wuchs dann nicht mehr weiter in die Höhe.

Amanda trug stets unauffällige, nie nach vorne spitz zulaufende Schuhe. Ihre Schuhe hatten eine schlichte Farbe, waren nie bunt oder gemustert. Die Schuhe waren so zurückhaltend, wie Amandas Charakter zurückhaltend war.

Einmal, als ich sie zufällig nach einem Konzert traf, sprach sie mich an. Ich wunderte mich, sie hatte mich noch nie angesprochen. Wir kannten uns aus dem Studium und hatten in einem Projekt zusammengearbeitet, aber noch nie hatte sie mich außerhalb des Campus angesprochen. Ich wunderte mich noch mehr, als ich ihre Schuhe sah. Es war Sommer. Die Musik war laut und wild gewesen und hatte unsere Gemüter erhitzt. Ich war erregt von der Musik, die mich in eine freie und unabhängige Welt geführt hatte. Nun standen Amandas Schuhe vor mir und zeigten mir wie das Leben wirklich war. Ich neigte meinen Kopf nach unten und ihre Schuhe hatten für den Rest meines Lebens ein Bild in meinen Kopf gesetzt.

Wenn ich später versuchte diesen Moment nachzuempfinden und das passende Bild zu finden, sah es so aus: Dorothy, das bezaubernde Mädchen mit den magischen roten Schuhen im Land des Zauberers Oz. Sie trägt die Schuhe, weil ihr Haus auf der bösen Hexe gelandet ist und diese getötet hat. Ich sehe dieses Böse, egal ob Dorothy daran Schuld trägt oder nicht. In diesem Moment sagen mir Amandas Schuhe, das Böse unserer Zukunft voraus.

Meiner Erhitzung weicht einer Kälte. Meiner Erregung folgt eine Starre. Ich stehe vor Amanda und weiß nicht mehr, was sie zu mir sagte. Ich weiß, dass ich für immer mit ihr verbunden sein werde, ob ich möchte oder nicht. Ich nehme ihren Arm, gehe mit ihr zum Ausgang und nehme sie mit zu mir nach Hause. Ich glaube wir haben uns unterwegs unterhalten, wahrscheinlich haben wir über das Konzert gesprochen. Äußerlich war ich fröhlich und ausgelassen, machte ihr Komplimente und streichelte ihren Arm. Im Inneren hatte sich die Starre ausgebreitet und ich agierte fremdgesteuert. Mein unberührtes Leben war zu Ende. Ich hatte nicht die Kraft, den mir soeben durch Amandas Schuhe gezeigten Weg zu verlassen, mich in eine andere Richtung zu bewegen. Fast mechanisch führte ich sie über die Straßen. So wie vielleicht jemand Amandas Wachstum beschränkt hatte, so beschränkte jetzt jemand mein Tun.

Ihre Schuhe waren nicht einmal rot.