Von Autofahrten

Aufruf von Doris Dörrie über Instagram: Schreibe von Autofahrten

Früher saßen wir zu Dritt im Auto auf der Hinterbank. Ich als Jüngste in der Mitte oder wir losten, wer in der Mitte sitzen musste. Losen deswegen, weil in der Mitte zu sitzen als gefährlich galt. Sie sagten mir, dass ich bei einer scharfen Bremsung durch die beiden Vordersitze fliegen würde.

Früher waren die beiden vorderen Sitze weiter auseinander montiert. Die Lücke war riesig. So breit, dass ich auf jeden Fall von hinten bis zur Frontscheibe fliegen würde. Und früher gab es an den Hintersitzen keine Anschnallgurte. Irgendwann hatte ich in der Mitte den „Flugzeuggurt“, der quer über den Bauch ging und locker saß, so sehr wir auch versuchten ihn stramm zu ziehen.

Wenn ich nicht in der Mitte sitzen musste, saß ich immer rechts hinter dem Beifahrersitz, hinter meiner Mutter.

Wir fuhren oft zu den Großeltern. Wir standen am Wochenende früh auf und ich setze mich müde und etwas benommen ins Auto. Ein passendes Körpergefühl, um zu träumen. Früher bin ich in die Strecke geritten. Heute bin ich in den Tagträumen nicht mehr im Sattel unterwegs.

Unsere Fahrt von zu Hause bis zu den Großeltern dauerte knapp eineinhalb Stunden. Davon ein Teil am Rhein entlang, eine Strecke über die Autobahn, von der Höhe kurvenreich runter ins Tal, die Mosel entlang, dann einen Berg wieder rauf und den letzten Teil der Fahrt über das Bergplateau.

Früher gab es hinten keine Smartphones, keine Videos, keine Spielauswahl. Früher gab es anstrengende Geschwister, die versuchten mich mit Lakritz zu vergiften und ihre Schultern zu nah an meinem Oberkörper hatten. Vorne ließ mein Vater das Radio so lange laufen, bis meine Mutter sagte, dass ihr das Gedudel auf die Nerven ging.

Ganz früher hatten wir kein Auto. Da sagten wir: „Alle haben ein Auto, nur wir nicht.“

Früher schaute ich rechts aus dem Fenster und stellte mir vor, dass ich auf einem Pferd neben dem Auto her galoppieren würde.

Die erste Strecke am Rhein entlang führte uns durch Dörfer. Wenn mein Vater Pech hatte, fuhr ein LKW vorneweg und er musste in einer Reihe von Autos langsam hinterherfahren. Dabei sollten wir doch zeitig noch vor dem Mittagessen bei den Großeltern sein. Die Häuser und großen Grundstücke der Dörfer gingen bis zur Straße. Manchmal gab es große Gärten, manchmal stand Haus an Haus. In einem Dorf stoppten wir oft an einem Zebrastreifen, direkt vor einer Kirche. Die Leute waren unterwegs zur Messe. Bei einem anderen Dorf stand ein kleines Haus auf einem Bergvorsprung. „Dort wohnt Heidi“ riefen wir jedes Mal. Ich ritt den Berg zu ihr hinauf.

Auf der Fahrt sahen wir einen Rheinarm, auf dem Boote zwischen einer Halbinsel und dem anderen Rheinufer lagen. Auf der Insel zwischen den Bäumen standen Wohnwagen. Ich und mein Pferd ritten vorwärts, ohne die Camper zu beachten.

Früher lenkte mein Vater das Auto an den Burgen und Schlössern an Rhein und Mosel vorbei. Burg Dattenberg, Schloss Arenfels, Niederburg Kobern, Schlossgut Liebieg, Burg Thurant, Burg Wildburg. Ich saß nie seitwärts im Sattel, nie in einem langen dunklen Rock. Ich trug Hosen und zeigte den Burgherren was es hieß eine tapfere junge Frau zu sein. Den Herren und Fürsten von der Leyen ritt ich in ihrem Wasserschloss Lehmen über den Frühstückstisch.

Im Herbst passierten wir die Weinfeste. Immer achtsam, um keinen angetrunkenen Besucher anzufahren. Viele Busse standen am Moselufer und unzählige Menschen waren unterwegs. Im Winter lag Schnee auf den Feldern und den Weinbergen. Die Straße war frei und der Matsch spritzte an die Seite des Autos. Während der Hochwasser sah ich in den Flüssen die Kühlschränke und Liegestühle schwimmen. Im Frühjahr strahlte der Raps mit seinem starken Gelb und die Weinblätter an den Hängen hellgrün. Im Sommer lag die Reisetasche im Kofferraum und ich blieb für einige Wochen bei den Großeltern.

Während dieser Fahrten ritt ich über Felder und Äcker, die neben der Autobahn lagen. Zäune übersprang ich mühelos auf meinem Pferd. Am Wasser ritt ich zwischen dem Fluss und der Straße. Immer weiter, ohne müde zu werden weiter zu träumen.

Wenn ich die Mosel sah, war die Hälfte des Weges geschafft. Die Mosel ist immer grün. Gelbgrün, wenn die Blätter der Reben in ihrer hellen Farbe wachsen und Tannengrün, wenn die Blätter von den Bäumen fallen.

Immer wieder mit dem Auto die bekannte Strecke zu fahren, hieß mit geschlossenen Augen, auf der letzten kurvenreichen Strecke genau zu wissen, wo wir uns befanden. Ist das die letzte Kurve vor einem geraden Stück? Dann rechts, noch ein paar Kurven, Pflastersteine, rechts und wir waren da.

Oder hatte ich falsch gelegen? Dasselbe Spiel auf der Rückfahrt. Das letzte Stück Straße bis zum Haus war mit Splitt ausgelegt, die ihr eigenes Geräusch unter den Reifen machen. Das knirscht schön und ich hörte, dass wir zurück waren. Manchmal verschlief ich die Rückfahrt und wachte erst bei dem bekannten Geräusch wieder auf.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir früher Wasserflaschen oder etwas zu Essen dabei hatten. Wir hatten höchstens noch den Rest Brot vom Frühstückstisch in der Hand. Früher mussten wir die Autofahrt so überstehen. Nur mit dem vergifteten Lakritz.

Früher saßen wir hinten im Auto und haben Ratespiel gelöst. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, Autokennzeichen- Raten. Wir haben auch Gedichte aufgesagt. Mein Bruder rezitierte den „Ritter Fips“ von Heinz Erhardt. Über die Zeilen des Gedichtes haben wir gelacht. „Es stand an seines Schlosses Brüstung, der Ritter Fips in voller Rüstung.“ Gesungen haben wir selten.

Auf späteren Autofahrten mit meiner Freundin, haben wir Lieder von der Cassette mitgesungen. Meine Sing-Freundin hat eine schöne Stimme. Wir sangen beim Rudern, im Urlaub und bei unserem Ferienjob. Die Autofahrten waren meistens kurze Fahrten zu einer Verabredung, zur Disco. Das Singen war befreiend, genauso wie das Autofahren als junge Erwachsene befreiend war. Wir fühlten uns frei. Irgendein Auto von irgendwelchen Eltern, brachte uns durch die Welt. Ans Meer, zu Festivals, in die große Stadt und nie zum Frühstücken nach Paris. Wir fuhren spontan am Silvesterabend von Bonn ins Ruhrgebiet und in den Morgenstunden wieder zurück. Wir packten Tequila und Zigaretten ein. Nie Wasser, nie was zu Essen. Essen wurde unterwegs gekauft. Das war ein Halt an einer Tankstelle. Heute halten wir an der Tankstelle, damit ich auf Toilette gehe.

Früher waren die Autofahrten ein Abenteuer. Die erste Fahrt durch Paris. Bloß aufpassen, die richtige Ausfahrt zu erwischen, während ich über den Stadtring sauste. Die Autofahrten nachts von der Disco zurück, um Freunde in entlegene Orte zu bringen. Eigentlich war es immer nur ein Freund und ein Dorf. Mir machte es nichts aus, keinen Alkohol zu trinken und ich konnte sicher sein, dass ich in mein eigenes Dorf zurückkam.

Als Kind und Jugendliche konnte ich mich auf Autofahrten langweilen. Das war spannend. Zwischendurch erlebte ich als junge Erwachsene Autofahrten, die mich nur von A nach B brachten. Vornehmlich, wenn Erwachsene fuhren und mich nur mitnahmen. Da wartete bei „B“ das Abenteuer auf mich. Früher habe ich zwischen A und B geschlafen. Auf einer 16-stündigen Fahrt auf dem Rücksitz mit minimalem Platz zwischen meiner Freundin, diversen Decken und einem Staubsauger, haben wir beide die ganze Fahrt verschlafen. Von dieser Fahrt wird heute noch erzählt. „Sie haben alles verschlafen, und sind erst am Meer aufgewacht.“ Waren wir mit 18, 19 Jahren so müde? Ich bin mit dem Auto, Bus und Zug in andere Länder gereist. Nach Italien, an die Adriaküste, Slowenien, Toskana, Bretagne, Niederlande, Österreich, Südfrankreich, Dänemark, Belgien, Kroatien, Ostsee – alles auf Rädern erreicht. Alle diese Reisen mit dem Auto waren ein Abenteuer.

Früher war nicht alles anders. Das Abenteuer habe ich mitgenommen. Trotz, dass jetzt im Auto Wasser und Brote dabei sind.  Ich packe, egal wie lange die Fahrt dauert oder wie alt die Kinder sind, etwas zu Trinken und zu Essen ein. Mit Lakritz werde ich nicht mehr vergiftet. Ich fahre mit dem Auto in Urlaub. Und das Urlaubsgefühl beginnt mit dem Starten des Motors. Wenn ich an der Seite sitze, reite ich nicht mehr neben her, aber ich träume. Die Landschaft zieht vorbei und ich gebe mich den Tagträumen hin.

Auf dem Rücksitz gibt es immer noch kein Smartphone oder eine ausgeklügelte Spielesammlung. Wir spielen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ oder andere Ratespiele. Oder wir hören. Das hat mein Mann mit ins Autofahren gebracht: Hörspiele. Abenteuer zu hören von Jules Verne oder den Rätseln der „Drei Fragezeichen“, lädt auch zum Träumen ein. Gemeinsame Autofahrten dauern immer noch lange. Schön lange. Lange genug, um die Freiheit des Fahrens zu genießen. Und kurz genug, um nicht zu verhungern.

Und genau richtig, um neben dem Auto her zu galoppieren oder sich eine eigene Welt vorzustellen.

Bildquelle: Carlos Fernando Bendfeldt on Unsplash